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Forschungsprojekt „Governance-Modi und Faktoren der Landnahme: Weiße Siedler im Kontakt mit indigenen Gesellschaften in Nordamerika (1789-1851) und Australien (1788-1850)“

Das neue Teilprojekt des DFG-Sonderforschungsbereichs 700 („Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“), das von Ursula Lehmkuhl (John F. Kennedy-Institut) in Zusammenarbeit mit Norbert Finzsch von der Universität zu Köln durchgeführt werden soll, untersucht anhand von drei systemischen und drei politisch-gouvernementalen Faktorenbündeln den Zusammenhang von Governance und Gewalt im Kontext der amerikanischen und australischen Besiedlungsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Siedlerimperialismus).

Das neue Projekt muss als thematische und methodische Weiterentwicklung des inzwischen abgeschlossenen Teilprojekts „Colonial Governance in britischen und französischen Kolonien in Nordamerika“ verstanden werden, das in der ersten Projektphase frühneuzeitliche Formen von Governance untersucht hat, die sich auf die Siedlerbevölkerungen der jeweiligen Kolonien beziehen. In Anlehnung an das von Foucault geprägte Konzept der "Mikrotechniken der Macht" analysierte und typisierte das Projekt dazu Governance-Strukturen verstanden als selbst-referentielle Regulationssysteme europäischer Siedlerkolonien. Das Projekt konzentrierte sich insofern auf die Erarbeitung einer soziologisch-politischen Binnenperspektive der Siedlergesellschaften. Die indigene Bevölkerung wurde nur in soweit berücksichtigt, wie sie direkt – etwa als Sklaven – in Governance-Prozesse der Siedlergemeinschaften einbezogen war.

In der zweiten Phase des SFB 700 stellt das neue Teilprojekt das Verhältnis der Siedler zur indigenen Bevölkerung in den Vordergrund der Untersuchung (Siedlerimperialismus). Historisch wird die frühe Republik (USA) bzw. der Übergang Australiens von der Kronkolonie zum Dominion in den Blick genommen. Damit konzentriert sich dieses Teilprojekt auf transitorische Governance-Konstellationen in historischen Umbruchsituationen. Dabei sollen die herausgearbeiteten Governance-Strukturen insbesondere im Hinblick auf ihre „Problemlösungsfähigkeit“ und „Effektivität“ überprüft werden. Effektivität und Problemlösungsfähigkeit werden hier als wertneutrale analytische Kategorien verwendet. Dies muss an dieser Stelle betont werden, weil sich die Untersuchungen auf potentiell genozidale Prozesse bezieht. Aus diesem Grund ist hier unter dem Aspekt der Effektivität von Governance-Strukturen insbesondere zu prüfen, inwieweit es Akteuren in transitorischen Governance-Konstellationen gelingt, die unterschiedlichen Gruppen der Siedler mit ihren variierenden ethnischen und Klassenhintergründen in partizipatorische Ordnungsmuster einzubinden. Mit Effektivität ist hingegen nicht gemeint, ob das siedlerimperialistische Projekt die indigenen Bevölkerungen einzubinden vermochte oder sie „effektiv“ verdrängt hat. Dennoch  wird das Teilprojekt den Zusammenhang von Governance und Gewalt untersuchen. Es analysiert Faktoren, die helfen, den Umschlag von einer stabilen bzw. relativ friedlichen Situation der Kohabitation von weißer und indigener Bevölkerung in eine Situation aggressiver Landnahme, die Formen und Merkmale von low intensity warfare annehmen konnte, zu erklären. Mit Kohabitation sind die folgenden Formen der Interaktion gemeint: relativ friedliches Mit-und Nebeneinander (Akkomodation); Handel und Warenaustausch; gegenseitige Hilfe bei der Besiedlung der Frontier (Kooperation); intermarriage (Kulturkontakt); darüber beschreibt Kohabitation Phasen des Übergangs von einer „friedlichen“ Form der Interaktion zu einer anderen.

Empirisch konzentriert sich das Forschungsprojekt auf die langsamen Prozesse der Landnahme, Verdrängung und Auslöschung indigener Gesellschaften in den USA (Besiedlung der US-Territorien im Zeitraum 1787-1858) und Australien (Besiedlung New South Wales und Victoria 1788-1851) im Vergleich. Im Zentrum der Analyse stehen die Kleinstereignisse, also jene alltäglichen und habituellen Verrichtungen und (körperlichen) Praktiken, die von der Geschichtsschreibung gewöhnlich nicht wahrgenommen werden, die aber dennoch große Bedeutung für die Gestaltung einer historischen Umwelt haben. Diese Kleinstereignisse werden in Beziehung gesetzt zu Governance-Konstellationen, die den Prozess des Siedlerimperialismus mit determinieren. Die zentralen Beobachtungseinheiten des Teilprojekts sind insofern erstens jene Konstellationen in diesem prekären Prozess, in denen gouvernementale Ordnungsansätze beobachtet werden können, zweitens die Kleinstereignisse und Mikropraktiken an der Frontier, die im Sinne systemischer Kontextvariablen operationalisiert werden.

Die folgenden Leitfragen sollen beantwortet werden: Unter welchen Bedingungen von Governance und Kleinstereignissen an der Frontier kommt es zum Übergang von Kohabitation zu low intensity warfare? Welche Rolle spielen kulturelle Kontextbedingungen für eine Entscheidung zum Kampf bzw. für die Entscheidung zum Einsatz von Gewaltmitteln? Inwieweit sind die hier zu beobachtenden menschlichen Aktionen durch "intentional entities" wie Glaubenssätze, Diskurse und Begehren beeinflusst und inwieweit werden die Entscheidungen von Menschen durch nicht-intentionale Handlungsregulierung wie Formen der Selbststeuerung oder durch Mikrotechniken der Macht, etwa Rolle und Position innerhalb hierarchischer Subsysteme, gesteuert? Welche unbeabsichtigten Konsequenzen kollektiver menschlicher Entscheidungen bewirken eine „Bifurkation“ im Sinne des Umschlagens von Governance in offene Gewalt? Welche Interaktionsformen charakterisieren den Konfliktfall und was erklärt letztlich den Erfolg der Siedler bei der Landnahme?