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Christian Lammert und Betsy Leimbigler im Tagesspiegel Background zur Gesundheitspolitik in den USA nach der Wahl

News vom 23.11.2020

Die US-Amerikaner haben den Demokraten Joe Biden zum 46. Präsidenten gewählt. Die US-Experten Christian Lammert und Betsy Leimbigler von der Freien Universität Berlin erklären im Standpunkt, welche Gesundheitsreformen der designierte Trump-Nachfolger anstreben könnte und wie realistisch deren Umsetzung ist.

Der Wahlsieg des Demokraten Joe Biden zum 46. Präsidenten wird Konsequenzen für die Gesundheitspolitik in den USA haben. Im Zentrum der stark parteipolitisch gespaltenen Debatte steht dabei noch immer „Obamacare“ – die Gesundheitsreform der Obama-Administration aus dem Jahre 2010. Bislang ist es weder der Trump-Administration noch den Republikanern im Kongress trotz mehrfacher Ankündigung gelungen, den Affordable Care Act – so der offizielle Name der Gesundheitsreform – zurückzunehmen. Sie waren lediglich erfolgreich, eine wichtiges Element der Reform abzuschaffen: die Versicherungspflicht (individual mandate), die ursprünglich in die Reform integriert wurde, um die Nachfrage nach privaten Versicherungspolicen zu sichern.

Versicherungsgesellschaften hatten dies als Gegenleistung für eine striktere staatliche Regulierung des Versicherungsmarktes gefordert. Republikaner und Trump hatten sich erhofft, dass damit die gesamte fragile Konstruktion der Gesundheitsreform zusammenbrechen würde, was allerdings nicht eingetreten ist. Momentan versuchen Trump und die Republikaner noch vor dem Supreme Court die Gesundheitsreform zu kippen, hier fanden die mündlichen Verhandlungen bereits statt, ein Ergebnis wird aber erst für das Frühjahr 2021 erwartet. Sollte das Gericht die Reform kippen, würden rund 20 Millionen Menschen ihren Versicherungsschutz verlieren. 

Somit gilt noch immer der Gesetzestext Obamas in der Gesundheitspolitik, aber alle Probleme im Gesundheitssektor konnten auch mit Obamacare nicht gelöst werden. Noch immer ist die Zahl Nicht-Versicherten sehr hoch und steigt auch in den letzten Jahren wieder an. Während es in der Zeit nach der Verabschiedung von Obamacare zu ein deutlichen Reduzierung der Zahl von Nichtversicherten kam – ein Rückgang von immerhin rund 20 Millionen Menschen – haben seit 2017 erneut rund 2,2 Millionen Menschen ihren Versicherungsschutz verloren und die Zahl der Nichtversicherten ist wieder auf 29,3 Millionen Menschen (9,2 Prozent der Bevölkerung) angestiegen. Auch die Kostenentwicklung ist weiterhin ein Problem. Zwar konnte mit Obamas Reform der Kostenanstieg im Gesundheitssektor gebremst werden, der Trend steigender Gesamtkosten und auch bei den Kosten für Versicherungspolicen und Zuzahlungen zu medizinischen Leistungen konnte nicht nachhaltig gestoppt werden. 

Stark diskriminierende Differenzen beim Zugang zur Versorgung

Gerade die Covid-Pandemie hat erneut deutlich gemacht, wie wichtig der Zugang zu bezahlbaren medizinischen Leistungen ist und damit über Leben und Tod entscheiden kann. Wir sehen noch immer stark diskriminierende Differenzen beim Zugang zu medizinischer Versorgung. So hatten 2018 beispielsweise 7,5 Prozent der „Weißen“ keine Krankenversicherung, bei Afro-Amerikanern liegt der Wert dann schon bei 11,5 Prozent und bei der hispanischen Bevölkerung sogar bei 19,0 Prozent. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist auch nicht verwunderlich, dass bestimmte Gruppen wie beispielsweise Afro-Amerikaner überproportional von der Covid-Pandemie betroffen sind.  

In der Demokratischen Partei existieren momentan unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie diese Missstände im Gesundheitssystem angegangen werden können. Während der progressive Flügel um Bernie Sanders für einen umfassenden Strukturwandel im Gesundheitssystem plädiert und eine allgemeine universelle staatliche Krankenversicherung – Stichwort Medicare-for-All – einführen will, hat der neu gewählte Präsident Biden einen Plan vorgelegt, der auf dem Affordable Care Act Obamas aufbaut. Damit würde der Großteil des bestehenden Gesundheitssystem bestehen bleiben. Die meisten Erwerbstätigen würden weiterhin über ihren Arbeitgeber privat krankenversichert sein und auch die beiden öffentlichen Gesundheitsprogramme – Medicaid und Medicare – würden erhalten bleiben. In Ergänzung zu Obamacare will Biden aber eine öffentliche Krankenversicherung (public option) auf den von Obamacare etablierten privaten Versicherungsmärkten in den Einzelstaaten schaffen, um hier als Konkurrenz zu privaten Versicherungsprogrammen zu fungieren. Die Hoffnung: mehr Wettbewerb führt zu einer Senkung der Versicherungsprämien.

Mit der Public Option könnten auch viele US-Bürger mit niedrigem Einkommen einen Versicherungsschutz bekommen, denen momentan der Zugang zu solchen Programmen verwehrt ist, weil einige Bundesstaaten der unter Obamacare vorgesehenen Ausweitung von Medicaid nicht zugestimmt haben. Etwa vier Millionen Menschen könnten somit Zugang zum Versicherungsschutz bekommen. Darüber hinaus will Biden durch Steuergutschriften indirekt die staatlichen Subventionen erhöhen, um die Versicherungsprämien für die Mittelklasse zu senken. Zudem sollen durch striktere Regulierungen im Gesundheitssektor die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente gesenkt und Prämienerhöhungen durch die Krankenversicherungsgesellschaften begrenzt werden. 

Mehrheitsverhältnisse im Senat unklar

Die Erfolgschancen von Bidens Gesundheitsplan hängen natürlich davon ab, welche Partei den Kongress kontrolliert. Momentan ist es noch unklar, wie die Mehrheitsverhältnisse im Senat aussehen werden. Sollten die Republikaner hier eine knappe Mehrheit behalten können – und danach sieht es momentan aus – sind dies Aussichten sehr gering, umfassende Gesetze im Gesundheitsbereich durchzusetzen. Zudem wird sich Biden auch den Forderungen nach einem umfassender Strukturwandel und einer stärkeren Rolle des Staates im Gesundheitssektor aus der eigenen Partei gegenüber sehen.  Biden muss also nicht nur versuchen, überparteiliche Reformkoalitionen zu bilden, die auch die Interessen der Pharmaindustrie, der Versicherungsgesellschaften und der Ärzte und Krankenhäuser integriert. Er sieht sich auch Widerstand aus der eigenen Partei gegenüber, was die Erfolgsaussichten einer umfassenden Gesundheitsreform sehr unwahrscheinlich erscheinen lässt. 

Prof. Christian Lammert ist Professor für North American Politics and Policy am John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin. Betsy Leimbigler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Politik.

Tagesspiegel Background, 20.11.2020

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