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Lehre im Gefängis

Dickinson für Straftäter

Dr. Andrew Gross lehrte in einem US-Gefängnis

Dr. Andrew Gross ist Alumnus der UC Davis und seit dem Wintersemester 02/03 in der Abteilung Literatur des JFKI tätig (seit 2005 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter). Das Jahr zuvor partizipierte er in einem Freiwilligen-Projekt zur Hochschulbildung von Inhaftierten des Staatsgefängnisses in San Quentin, Kalifornien.

Unter welchen Umständen und von wem wurde dieses Programm initiiert?

Gross: Mitte der Neunziger, zur Zeit der Clinton-Administration, erklärte der Kongress Studiendarlehen an Straftäter jedweder Art für illegal. Damit war das Ende von Bildungsprogrammen in Gefängnissen auf Hochschulniveau, welche aus diesen Krediten finanziert wurden, besiegelt. Von nun an war es für Häftlinge unmöglich, einen höheren Bildungsabschluss als ein High-School-Diplom zu erreichen. Dr. Jody Lewen, eine Berkley-Absolventin versuchte daraufhin, ab 1996 mit ihrem ehrenamtlichen, über Beihilfen finanzierten Projekt diese erniedrigende Lücke zu füllen.

Sie lehrten zu dieser Zeit an der UC Davis. Was war ihre Motivation zusätzlich an dem Programm teilzunehmen?

Gross: Es waren mehrere Faktoren ausschlaggebend. Zum einen gab es mir die Möglichkeit, etwas von der Bildung, die ich genoss, zurück zu zahlen an Menschen, die ansonsten nicht die Chance dazu hätten. Andererseits glaube ich daran, dass Lehren etwas mit dem Überschreiten von Grenzen zu tun hat – Grenzen zwischen Leuten, Ideen und Institutionen.

Sie spielen auf eine Verantwortung der Hochschulen an?

Gross: Ja. Ich glaube, dass die kommunale Rolle der Hochschule, solche Barrieren zu überwinden – also Lehrer hinaus zu senden und Außenstehende sowie Benachteiligte teilhaben zu lassen – viel zu oft in Vergessenheit gerät.

Erzählen Sie etwas über die Kurse und ihre Erfahrungenim Gefängnis. Wie stand es um Ihre Angst?

Gross: Sicherlich waren die vordergründig rassischen Spannungen in den Kursen klar zu spüren. Und wenn es einer der Häftlinge darauf angelegt hätte, dem Dozenten Schaden zu zufügen, wäre es ihm wohl auch gelungen. Eine Art Grundangst war folglich vorhanden. Die Teilnehmer wurden aber vorrangig nach ihrem Verhalten ausgewählt und die Interaktion während des Unterrichts war doch respektvoll. Ich versuchte im Gegenteil sogar durch Lehr-Inhalte zu provozieren.

Geben Sie uns eine Kostprobe.

Gross: Ich ließ zum Beispiel Emily Dickinson lesen, was vor dem betont männlichen Hintergrund eines Gefängnisses außerordentlich interessant schien. Und siehe da, allem machohaften Benehmen und Sexismus zum Trotz, stieß diese Poesie auf erstaunliche Resonanz. Sie wurde als ansprechend empfunden, da Dickinson eine Dichterin des engen Raums ist und somit der Bezug zur persönlichen Realität innerhalb der Gefängnismauern greifbar ist. Die Lektüre rief beeindruckende Diskussionen und Beiträge hervor.

Wurden Ihre Erwartungen an das Programm, an ihre ‚Mission’, erfüllt?

Gross: Man sollte nicht melodramatisch an die Sache herangehen. Ich sehe mich nicht etwa als ein Retter der Armen und Benachteiligten. Ich weiß, dass ich den Häftlingen eine zeitweilige Ablenkung von ihrem Alltag verschaffen konnte und hoffe, zumindest manchen unter ihnen, Literatur etwas näher gebracht zu haben.

Was haben Sie jedoch für sich selbst und besonders ihren Beruf mitgenommen?

Gross: Die Erfahrung in San Quentin brachte mich vor allem dazu, über Machtstrukturen von Institutionen nachzudenken. Jemand hat das Sagen, das Monopol auf Disziplinierung und Sanktionen, weil die Institution selbst es so festlegt. Im Foucault‘schen Sinne ist also auch die Bildungseinrichtung eine Art Gefängnis, auch wenn man selbstverständlich das eine nicht auf das andere reduzieren kann. Eine Universität bietet sowohl Lehrenden als auch Studierenden etwas, nur sollten diese Vorteile, wie gesagt, stärker nach außen verteilt werden.

Wie sehen Sie die Zukunft solcher Projekte?

Gross: Leider bin ich da nicht sehr optimistisch. Seit den Achtzigern, der Zeit Ronald Reagans, hat sich die allgemeine Haltung gegenüber Kriminalität stark gewandelt. Das Augenmerk ist jetzt eher auf harte Bestrafung als auf Resozialisierung gelegt. Sinnbildlich dafür geht der Trend hin zu konzentrierten Supermax-Sicherheitsgefängnissen, fernab von urbanen Zentren. Neben ökonomischem ist hierfür öffentlichkeitswirksames Kalkül ausschlaggebend. Proteste gegen unzureichende Haftbedingungen und die Todesstrafe sollen ein Ende finden, die Thematik dem öffentlichen Auge entzogen werden. Leider bedeutet dies, vor allem durch die unzumutbaren Distanzen, wohl auch das Ende für solche freiwillige Bildungsprogramme.

(Christian Ulrich und Hanni Meirich)